Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie erst einmal zu verstehen.
Dass Gedanken die Welt verändern können, steht außer Frage. Freiheitsvorstellungen haben zum Sturz von Imperien beigetragen, Ideologien haben ganze Kontinente ergriffen und zu einer umfassenden politischen Neuordnung geführt, und auch die Lehren, die von den verschiedenen Religionen vertreten werden, können tief in das Leben der Menschen eingreifen und individuell wie politisch grundstürzende Folgen haben. Die Macht des Gedankens ist also schwer zu bestreiten. Doch die Gedankengebäude, Theorien und Ideologien widersprechen einander, sie erheben alle einen exklusiven Wahrheitsanspruch – selbst wenn sie die Möglichkeit von Wahrheit leugnen – und können doch nicht zugleich und in gleicher Hinsicht wahr sein, wenn sie sich denn in Widerspruch zueinander befinden.
Dieses Dilemma kann man auflösen, indem man sich einer der miteinander streitenden Seiten zuschlägt. Eine andere Lösung ist die sokratische: die möglichst vorurteilslose Prüfung schlechthin aller Theorien und Ideologien, eine Prüfung, die sich ganz auf das zu untersuchende Denken einlässt, es in einem tiefgehenden Verstehensprozess auf seine Voraussetzungen zurückführt und als entscheidendes Kriterium der Prüfung nur das der inneren Stimmigkeit zulässt. Das Ergebnis ist in der Regel, dass der Widerspruch nicht bloß ein äußerer ist, also die Nicht-Übereinstimmung mit der Gegentheorie. Der Widerspruch ist vielmehr ein innerer – der Widerstreit zwischen den eigenen Prämissen und den aus ihnen abgeleiteten Folgerungen. Zwar wirkt dieses Ergebnis aporetisch. Was bleibt denn übrig, wenn man zeigen kann, dass sich alles in Widersprüchen auflöst? Doch wahrscheinlich ist der einzige Weg zur Wahrheit die Überwindung des Irrtums. Das in sich Widersprüchliche weist den Weg über den Widerspruch hinaus.
Gerade weil dem Gedanken solche Macht innewohnt, erscheint es so wichtig, Denken zu verstehen – möglichst bevor es Gelegenheit bekommt, die Wirklichkeit zu prägen. Deshalb ist dies das Programm: das Denken zu durchzudenken, mit dem Ziel, es zu verstehen und es auf dieser Basis einer Prüfung zu unterziehen. Das darf vor dem eigenen Denken natürlich nicht Halt machen.